Claude Steiner:

Das Märchen von den Kuscheltüchern

Originaltitel: A Warm Fuzzy Tale


Es war einmal eine Familie mit dem Vater Tim, der Mutter Maggy, dem Sohn John und der Tochter Lucy und waren sehr glücklich. Warum waren sie so glücklich? Zu der Zeit bekam jedes Kind bei seiner Geburt ein kleines, weiches Kuscheltuch-Beutelchen. In dem Beutelchen war, wann immer man hineingriff, ein schönes, warmes Kuscheltuch.

 

Alle Leute mochten diese Kuscheltücher sehr gerne. Wenn man ein Kuscheltuch hatte, dann fühlte man sich gleich ganz warm und kuschelig. Leute, die nicht jeden Tag ihr Kuscheltuch bekamen, wurden krank, begannen wie ein alter Apfel einzutrocknen, und schließlich mussten sie sterben.

 

Aber damals war es ganz einfach, warme Kuscheltücher zu bekommen. Wenn man eines brauchte, dann ging man zu einem anderen Menschen und sagte: "Ich möchte gerne ein warmes Kuscheltuch haben!" Der andere griff dann in sein Beutelchen und zog ein Tüchlein hervor, so groß wie eine Mädchenhand. Kaum erblickte das kleine Tuch das Tageslicht, begann es zu lächeln und verwandelte sich in ein großes, weiches und warmes Kuscheltuch. Der eine legte es dem anderen dann auf die Schulter, auf den Kopf oder in den Schoß, und schon schmiegte es sich an und verschmolz mit dem Körper.

 

Das war ein ganz wunderbares Gefühl! So erbaten sich die Leute häufig ein Kuscheltuch voneinander, und jeder gab gerne, - es gab sie ja in Hülle und Fülle. So lebten sie alle glücklich und ihnen war wohl.

 

Eines Morgens stand eine böse Hexe mitten im Dorf! Sie war böse geworden, weil niemand ihre Salben, ihre Pillen und Mixturen kaufen wollte. Die böse Hexe aber war schlau und dachte sich einen niederträchtigen Plan aus. Als Maggy gerade mit ihrer Tochter auf der Wiese beim Haus spielte, schlich sich die Hexe zu Tim und flüsterte ihm ins Ohr:

 

"Sieh nur, Tim, was Maggy macht! Sieh nur, sie gibt all die schönen Kuscheltücher der kleinen Lucy. Wenn sie so weitermacht, dann wird bald keines mehr für dich übrigbleiben, weil sie sie alle der kleinen Lucy gegeben hat!"

 

Tim war erstaunt. Er schaute die Hexe an und sprach:" Soll das heißen, dass das Kuscheltuch-Beutelchen eines Tages leer sein könnte? Ist denn nicht immer, wenn man hineinlangt, ein neues, warmes Kuscheltuch darin?"

 

Da sprach die Hexe: "Oh nein, keineswegs! Wenn sie ausgehen, dann ist keines mehr da. Das letzte wird das letzte sein!" sprach’s, schwang sich auf ihren Besen und flog davon. Ihr Kichern und Triumphgeheul ließ noch lange Zeit die Luft erzittern.

 

Die Worte der Hexe begannen sich in Tims Herz einzufressen, und wann immer Maggy jemand anderem ein warmes Kuscheltuch, sah er es mit scheelem Blick. Er begann sich Sorgen zu machen, weil er die warmen Kuscheltücher seiner Frau so gerne mochte und nicht auf sie verzichten wollte. Er fand es nicht recht, dass Maggy alle ihre warmen Kuscheltücher den Kindern und sogar Fremden im Dorf gab. Immer wenn er das sah, begann er zu klagen, und weil Maggy ihn sehr liebte, wurde sie sparsamer mit ihren Kuscheltüchern und hob sie für ihn auf. Als die Kinder das sahen, dachten sie bei sich: "Mit warmen Kuscheltüchern muss man sparsam sein! Man darf sie nicht bei jeder beliebigen Gelegenheit verschenken!" So wurden auch die Kinder sparsamer mit ihren Kuscheltüchern. Von nun an beobachteten sie ihre Eltern misstrauisch; und wenn sie fanden, dass ihre Eltern zu viele Tüchlein an andere Leute gaben, dann klagten und schimpften sie, und wenn sie selbst einmal großzügig waren, dann hatten sie gleich ein schlechtes Gewissen. Obwohl sie immer, wenn sie in das Beutelchen griffen, ein neues, schönes und warmes Kuscheltuch haben konnten, griffen sie immer seltener in das Beutelchen.

 

Sie wurden immer geiziger und geiziger. Nach kurzer Zeit begannen die Leute zu frieren und sich ungemütlich zu fühlen. Sie begannen zu frösteln und zu verschrumpeln, und einige von ihnen starben sogar, weil sie schon so lange kein warmes Kuscheltuch mehr bekommen hatten. So gingen immer mehr Menschen zum Haus der Hexe und kauften Salben und Pillen und kleine Fläschchen mit Elixier, obgleich sie schnell merkten, dass das Zeug wenig half. Das Leben im Dorf wurde immer elender und beschwerlicher.

 

Als die Hexe sah, dass immer mehr Menschen starben, erdachte sie einen neuen Plan; denn sie wollte ja nicht, dass die Leute alle sterben - wer hätte sonst noch ihre Salben und Pillen und Elixiere gekauft? Sie gab also allen Leuten noch ein zweites Beutelchen. Die waren den alten Beutelchen ganz ähnlich, nur - sie waren kalt, und wenn man hineingriff, so fand man darin kalte Nesselfetzen. Von diesen kalten Nesselfetzen wurde den Menschen nicht mehr warm und wohlig, sondern kühl; sie bekamen eine unangenehme Gänsehaut davon. Die kalten Nesselfetzen hinderten sie zwar am Schrumpeln und Sterben, aber ihnen wurde kalt und schauderhaft zumute. Sprach nun einer seinen Nachbarn an und bat um ein warmes Kuscheltuch, dann dachte der Nachbar bei sich, dass er keine hergeben mochte und sprach: "Ein warmes Kuscheltuch kann ich dir nicht geben, aber möchtest du nicht einen meiner kalten Nesselfetzen?" So standen sie oft beieinander, dachten in ihrem Innersten an die warmen Kuscheltücher und gaben sich schließlich die kalten Nesselfetzen. So starben nur noch wenige Menschen, aber die meisten waren unglücklich, kalt und frostig geworden.

 

Seitdem die Hexe im Dorf aufgetaucht war und die warmen Kuscheltücher immer seltener geworden waren, wurde das Leben immer beschwerlicher und komplizierter. Die warmen Kuscheltücher, die es vormals so reichlich gab wie die Luft zum Atmen wurden nun teuer gehandelt. Die Leute taten alles Mögliche, um eines zu bekommen. Früher hatten sie einfach beieinandergestanden, zu dritt, zu viert, zu fünft, und keiner hatte darauf geachtet, wer wem ein Kuscheltuch gab. Aber nun begannen sie die Kuscheltücher einzuteilen. Es gab nicht mehr jeder jedem, sondern sie schlossen sich zu Paaren zusammen, die sich nur noch gegenseitig mit den Kuscheltüchern versorgten. Vergaß jemand diese neue Regel und gab ein echtes Kuscheltuch an jemand anderen, dann bekam er schnell ein schlechtes Gewissen, weil er ja wusste, dass „sein" Partner nun Mangel leiden musste. All die Menschen, die keinen anderen für sich finden konnten, mussten ihre warmen Kuscheltücher für teuer Geld kaufen und dafür lange Stunden hart arbeiten.

 

Einige wenige Menschen im Dorf wurden als etwas „Besonderes" angesehen und berühmt; ihnen gab man viele Kuscheltücher, und sie mussten sie nicht zurückgeben. Diese Leute sammelten die Kuscheltücher und verkauften sie an weniger berühmte Menschen, die sie zum Überleben ja brauchten.

 

In der allgemeinen Not geschah es, dass einige Leute die kalten Nesseltücher färbten und ihnen das Aussehen von warmen Kuscheltüchern gaben. Die falschen Kuscheltücher kamen im Umlauf und brachten neue Not über die Menschen. So geschah es zum Beispiel, dass sich zwei Menschen begegneten und in liebevoller Absicht mit den - falschen - Kuscheltüchern beschenkten; danach fühlten sie sich dann ganz elend. Die Menschen wussten schließlich gar nicht mehr, woran sie waren: Sie konnten die falschen von den echten Kuscheltüchern nicht unterscheiden und wurden unsicher.

 

Das einst so schöne Leben im Dorf war eine rechte Last geworden und alles nur, weil die böse Hexe sie glauben gemacht hatte, dass die schönen warmen Kuscheltücher eines Tages ausgehen könnten. Vor nicht all zu langer Zeit erschien in dem Dorf eine junge Frau. Die war im Sternzeichen des Wassermannes geboren und fiel allen auf, weil sie Blumen im Haar trug und oft sehr fröhlich über die Wiesen des Dorfes hüpfte. Sie kümmerte sich nicht um die böse Hexe und war mit ihren warmen Kuscheltüchern ganz freizügig. Sie gab sie jedem - ja, man musste sie noch nicht einmal darum bitten. Die Bewohner des Dorfes verachteten sie, weil sie die Kinder dazu verleitete, mit den Kuscheltüchern verschwenderisch umzugehen. Die Kinder mochten die Blumenfrau sehr gerne. Sie fühlten sich wohl in ihrer Nähe und geizten nicht mehr mit ihren Tüchlein.

 

Die Erwachsenen des Dorfes taten sich zusammen und machten ein Gesetz, das die Kinder davor bewahren sollte, die warmen Kuscheltücher zu vergeuden. Das Gesetz verbot den unkontrollierten Verkehr mit Kuscheltüchern und bedrohte all die mit Strafe, die ohne eine besondere Erlaubnis Kuscheltücher hervorzogen. Aber viele Kinder hielten sich nicht daran; sie waren weiterhin freizügig und scherten sich nicht um das Gesetz.

 

Weil es so viele Kinder gab, fast so viele wie Erwachsene, sah es so aus, als ob die Kinder ihre eigenen Gesetze machten. Wie es nun weitergeht? Das ist schwer zu sagen. Werden die Eltern ihre unfolgsamen Kinder unter ihr Gesetz zwingen? Werden sie sich der Blumenfrau anschließen und zusammen mit ihren Kindern wieder so freizügig leben wie in alten Tagen?


Claud Steiner und Stefan Betsch, Transaktionsanalyse
Claude Steiner und Stefan Betsch 2007

Claude Steiner (1935-2017) war ein Psychotherapeut und Transaktionsanalytiker, der sich intensiv mit dem Thema Strokes (Zuwendungen) befasst hat. Er prägte den Begriff Stroke Economy und veröffentlichte eine Reihe von Büchern und Texten, u. a. das Märchen von den Kuscheltüchern.